11. Dezember 2017

Und dann war es doch wie immer
 
Es schneit heute. Der Wind treibt die Flocken so auf den Asphalt, dass sie dessen Struktur verdeutlichen. Mit der ersten dünnen Schneeschicht sieht der Weg aus wie eine grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotografie aus früherer Zeit. Vor einem halben Jahr war der Hochsommer früh gekommen. Ich radelte früh morgens, um meine gerade lädierten Knie zu schonen, so langsam es ging Richtung Kassel, das hinter Mittelgebirgen liegt, wenn man nicht direkt die Fulda herab oder die Weser herauf kommt. Im Gepäck hatte ich Wasser, Frikadellen, Bananen, Sonnencrème und frische Kleidung, die ich am Stadtrand anziehen wollte. Ursprünglich wollte ich auf diese Weise nur das Geld für die Zugfahrt sparen, inzwischen aber gehört die Radfahrt für mich zur Feier der documenta. Denn eine Feier ist sie ja, ein Volksfest auch.

Eine frisch verrentete Nachbarin, die noch einmal studieren wollte ("etwas Richtiges" hätte ich gern gesagt, weil sie zwar früher schon einmal studiert hat, aber nur etwas, auf dessen Grundlage man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann), lud mich ein. mit ihr in eines ihrer Seminare, nämlich eines zur aktuellen documenta, zu gehen. Nachdem wir die vorige Ausgabe der Ausstellung einen Tag lang gemeinsam beguckt hatten, bot es sich an, sich diesmal gemeinsam vorzubereiten. Und für mich gibt es keinen schöneren Ort dafür als die Universität. Ich nehme es ihr nicht übel, dass sie mich weniger geliebt hat als ich sie.

Im Seminar fanden sich außer uns noch ein weiterer älterer Knacker, ein junger Mann und etwa fünfzehn junge Frauen ein. Diese fand ich nicht so hübsch wie die Studentinnen zu meiner Zeit, und das hat wohl auch seine Richtigkeit so. Die Leitung hatte ein Doktorand Mitte Vierzig, der tatsächlich Arbeit im Kunstbetrieb gefunden hatte.

Zunächst gab es einen langen Diavortrag über den Athener Teil der Ausstellung. Der Dozent hatte eine Liste von KünstlerInnen zusammengestellt, deren Werke er in Athen interessant gefunden hatte und ausführlich vorstellte und von denen er hoffte, dass sie auch in Kassel vertreten wären. Aus dieser Liste musste sich jede Teilnehmerin jemanden aussuchen und in einem Referat porträtieren. Ich hätte gern die kürzlich verstorbene Komponistin Pauline Oliveiros vorgestellt, von der ich mich fragte, was ihre Arbeit auf die documenta gebracht haben mochte, aber ihr Name stand nicht auf der Liste. Daher entschied ich mich für den noch kürzlicher verstorbenen Beau Dick, allein auf der Grundlage, dass er Kanadier gewesen war.

Ich weiß nicht, was die "sichere Suche" im Internet ergibt, wenn man "Beau" und "Dick" eingibt, weil ich mich auf so einen Zensurquatsch nicht einlasse, aber wenn man den ganzen Namen in Anführungszeichen setzt, trifft man auch unzensiert zunächst auf einen kanadischen Künstler. Wie schon in meinem eigentlichen Studium fand ich, dass ich zu wenig Material fände. Aber letztlich hätte es wohl doch für einen langen Vortrag gereicht. Ich machte mir Stichworte, weil ich nicht gern schreibe und weil ich dem vorgelesenen Wort misstraue. Ich dachte, mein Vortrag würde lebendiger, wenn ich den paar netten jungen Leuten einfach erzählte, was ich gefunden und mir dabei gedacht hätte.

Beim nächsten Seminarblock ließ ich allen anderen den Vortritt, vielleicht aus Schüchternheit, sicher aber weil ich denen, die das Referat für ihr Fortkommen im Studium brauchten, nichts nehmen wollte. Ich hörte einiges Interessante und gut Vorgetragene. Mit der Zeit fand ich die jungen Frauen immer schöner, je nachdem, wie klug sie mir zu reden schienen. (Mit Männern geht es mir nicht so. Die nehme ich auch dumm hin.) Bei einigen Studentinnen bekam ich sogar den Drang, ein Gespräch anzufangen. Dazu ist es nicht gekommen, und auch das hat, seufz, wohl seine Richtigkeit. Am besten fand ich das Referat einer blendend aussehenden jungen Frau, das mit einer Gliederung begann, so dass ich das Gehörte gleich einordnen konnte, und am interessantesten das Referat des jungen Mannes, in dem er die feministischen Aspekte in den Bildern Miriam Cahns herausarbeitete.

Als die Reihe an mich kam, war es, meine Rücksicht bestätigend, sehr spät geworden. Ich hatte weniger als halb so viel Zeit wie die anderen und musste nun aus meinen Stichworten einige heraus klauben. Ich wusste, was mir wichtig war, mochte es aber nicht ohne seinen Zusammenhang darstellen. Alle, und auf einmal waren es sehr viele, sahen mich freundlich und erwartungsvoll an, meine Notizen fingen an zu tanzen, und dann sagte ich, gebeugt und zum an der Seite sitzenden Dozenten gewandt:

irgendwas.

So war es vor dreißig Jahren auch gewesen, und plötzlich hatte sich nichts geändert, hatte ich in der Zwischenzeit nichts dazugelernt, nichts an Ruhe oder Sicherheit gewonnen. Jetzt, Mitte Dezember, darf ich hoffen, dass das meine größte Niederlage dieses Jahres war.

Der Dozent, nach dreieinhalb Stunden noch voll konzentriert, blieb aber gelassen und hörte mühelos heraus, was mir am Wichtigsten war. Das war anders als früher.

 

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