15. Oktober 2008

In welcher Zeit lebt der Fußball?
 
In der Steinzeit, habe ich gelesen, wurden Mitglieder einer Gruppe, die die Regeln schwer verletzt, also jemanden getötet, die Götter beleidigt oder den Chef abzusetzen versucht, hatten, in die Wildnis geschickt. Wie weit sind wir seitdem gekommen? Und welchen Vergehens hat sich Kevin Kurányi schuldig gemacht? Hat er jemanden getötet oder so schwer verletzt, dass er nicht mehr spielen kann? Hat er auf die Deutschlandfahne gepinkelt oder bei der Hymne die Hand in der Hosentasche gehabt? Hat er versucht, Trainer anstelle des Trainers zu sein? Nein, auch das nicht. Er ist freiwillig in die Wildnis gegangen, offenbar in der Absicht, zurück zu kommen.

Vieles von dem, was wir über die Steinzeit denken, haben wir aus den Bräuchen der schriftlosen Völker abgeleitet. Soweit ich weiß, schließen die meisten von denen keinen aus, der weg geht, sondern nehmen ihn schlicht wieder auf, wenn er wiederkommt. Kurányis Vergehen ist wohl keines, das die Steinzeit kannte, auch wenn des Bundestrainers Reaktion steinzeitlich ist. Sein Vergehen ist ein militärisches: unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Im Krieg wird so etwas gern mit einer standrechtlichen Erschießung bestraft, in Friedenszeiten mit einer kurzen Freiheitsstrafe. Da Kurányi während eines Spiels weggegangen ist, hätte ihn der Bundestrainer wohl erschießen müssen. (Mit einem Fußball?)

Allerdings wurde militärischer Brauch zuletzt in der wilhelminischen Zeit ins Zivilleben übernommen, und Fußball halte ich für eine zivile Angelegenheit. Entsprechende Reaktionen wären möglich gewesen. Wenn Kurányis Vergehen eines an der Mannschaft war, hätte eine Teambesprechung die Lage klären können. Sollte der Trainer es als Disziplinlosigkeit eingeschätzt haben, hätte er eine Gardinenpredigt halten, eine Geldstrafe oder ein Sondertraining anordnen, oder, besonders fies, in einem Vier-Augen-Gespräch verständnisvoll auf seinen gekränkten Stürmer eingehen können. Nachdem er sich anders entschieden hat, bleibt die Frage, ob Joachim Löw, der die Gegenwart mit der Kaiserzeit und sich selbst mit einem Höhlenmenschen verwechselt, als Fußball-Bundestrainer der Herren noch tragbar ist. Es stellt sich die zweite Frage, ob es im DFB Überlegungen gibt, einen möglichen Schritt wenigstens ins 20. Jahrhundert zu prüfen.

Was mich aber eigentlich erschüttert hat, war Kurányis Auftritt nach seinem Rauswurf. Wie er sich hinter dem Bundestrainer (nicht vor ihm, denn der hatte sich ja bereits „definitiv“ von Kurányi abgewandt) in den Staub warf und so tat, als wäre Höhlenmenschentum etwas, zu dem man aufblicken könnte, war eines erwachsenen Menschen von 26 Jahren, der bereits zwei eigene Kinder hat, nicht würdig. Wenn Kevin Kurányi etwas falsch gemacht hat, dann das.

 

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